Operation Capablanca, ein musikdramatischer Felderzug mit 2^64 offenen Ausgängen

Lucas Gehrmann

Lothar Schmid und ich überblicken von Hochsitzen aus das Schachbrett und sagen unsere Züge an. Ich bin José Raoul Capablanca, er ist Hermann Steiner, die Partie wurde 1933 in Los Angeles ausgetragen, Capablanca trieb mit seiner Dame den schwarzen König quer über das Brett bis zum Matt. Lothar Schmid hatte diese Partie mit Zenita ausgesucht und kommentiert, die Züge und deren Kommentare bilden das Libretto ihrer Schachoper „Operation Capablanca“. Großmeister Schmid wurde im Jahr ihrer Uraufführung zum Schachschiedsrichter des Jahrhunderts gewählt, er hatte u.a. den Weltmeisterschaftswettkampf zwischen Spasski und Fischer 1972 so diplomatisch gelenkt, dass das Turnier von keinem der beiden Kontrahenten abgebrochen wurde, wiewohl es schon nach der zweiten Partie ganz danach ausgesehen hatte. Capablanca soll im Alter von vier Jahren seinen Vater schachmatt gesetzt haben, mein Vater musste mir im Alter von neun Jahren ein Remis anbieten, damit ich nicht ganz resignierte. Ich sitze hier oben als Ausstellungskurator, der jedenfalls von Schach so gut wie nichts versteht. Für Zenita spielt die höchst ungleiche Besetzung ihrer ansagenden Hintergrundshelden aber keine Rolle, denn lesen kann ich ja zumindest. Also freue ich mich, hier oben sitzen zu dürfen und bin nur ein wenig aufgeregt, dass ich mich nicht verspreche, denn Auswendiglernen ist nicht meine Sache und das Licht zum Lesen ist schwach hier oben, richtet es sich doch auf das große Brett unter uns, auf dem neben 32 von Zenita gestalteten Schachfiguren die große Sängerin Maria Harpner als weiße Dame und der große Schauspieler Ignaz Kirchner als schwarzer König agieren bzw. von Zenitas reizender Schwester und meinem Kunsthallenkollegen Gesualdo in Bewegung versetzt werden. Wahrscheinlich sind wir alle etwas aufgeregt, denke ich mir, denn noch nie dürfte jemand von uns etwas Vergleichbares getan oder erlebt haben. Ich denke an die beiden Proben zurück, während denen diese Aufführung eigentlich erst entstanden ist. D.h., die Musik war wohl komponiert, das Stück lag als Text vor, das Bühnenbild – also das Schachbrett mit den 32 Figuren – existierte ebenfalls, die AkteurInnen waren da und Zenita war da. Aber wer nun was wann und wie zu tun hatte, wusste niemand so recht. Eine Weile lang waren wir alle nur verblüfft. Wie sollte das gelingen mit nur zwei Proben? Wir hatten nicht daran gedacht, dass Zenita keine vorgefertigten Regieanweisungen braucht, so wie ja KünstlerInnen außer möglichst qualitätsvollen Materialien, technologischer Übung und einer Idee im Kopf auch keine Schnittmusterbögen zur Ausführung ihrer Arbeiten benötigen. Viel weniger noch, wenn nicht nur Materialien, sondern Individuen an der Werkgenerierung beteiligt sind! Unsere erst ratlose Verwunderung ob des offenbar Fehlenden wich dem Erstaunen über den Gewinn, den der vermeintliche Verlust einbrachte. Waren wir damit doch alle keine Marionetten, sondern frei Agierende, denen ein Rahmen zwar vorgegeben war, nicht aber die persönliche Form des Ausdrucks und der Interaktion. Diese entwickelten sich im Zusammenspiel mit Zenita, die nicht als regierende Regisseurin, sondern als Vermittlerin zwischen uns und ihren eigenen Vorstellungen fungierte. Zenita hat damit einen Prozess in Bewegung versetzt, der weitergeht, der diese Schachoper immer wieder neu entstehen lassen wird, denn selbst jetzt bei der Aufführung, an der ihre Erfinderin nur von außen zusehend und -hörend teilnimmt, läuft manches anders als bei der „Generalprobe“ gestern, und wenn ich etwas Aufgeregtheit zu spüren vermeine, ist dies nicht die der Bange ob des Gelingens, sondern die der Lust an der Spontaneität, die die AkteurInnen zunehmend auszuleben beginnen.

Die „Operation Capablanca“ erweist sich damit eindeutig als eine „Produktion“ von Zenita City. In Zenita City gibt es einen großen Platz, auf dem die Gründerin und Namensgeberin dieser Stadt Menschen aus den verschiedensten Regionen der Künste, Spiele, geistigen und angewandten Fächer versammelt, um mit ihnen gemeinsam Projekte zu realisieren. Nicht die Aussicht auf Geld oder Ruhm lockt da Persönlichkeiten in die Stadt, um die sich manche Agentur vergeblich bemühen würde, sondern eine neue, lebendige, nicht vor-kalkulierbare Form der synergetischen Entwicklung und Umsetzung von Ideen, persönlichen Professionen und Passionen.

Der schwarze König findet kein freies Feld mehr. Sein Kopf neigt sich zur Verbeugung vor seiner Besiegerin. Stille, Licht aus, Applaus. Zenita wird auf die Bühne geführt, Blumen fliegen ihr zu. Eine Operation ist glücklich beendet, viele weitere mögen folgen.